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ÜBERRASCHENDE INSIGHTS AUS DEM KONTX TALK IN ZÜRICH

(von Dominik Melzig)

Wimperntusche für Avatare? Warum nicht, wenn der Bedarf da ist. Darum verkauft L’Oréal jetzt auch Makeup und Hairstyles auf der spieleübergreifenden Avatar-Plattform „Ready Player Me“, auf der vor allem Gamer ihr virtuelles Ich gestalten. Unterstützt wird der Launch von der virtuellen Influencerin May, die den „surrealen“ Mascara für Avatare im Metaverse bewirbt. L’Oréal will eigenen Angaben zufolge bei den mehr als drei Milliarden Gamern weltweit „neue Beauty-Codes erforschen“ und seine „Schönheitsexpertise in die Welt jenseits des Physischen“ einbringen.

PR-Agentur diskutiert in Zürich aktuelle Digital-Trends

Ist das Metaverse also ein riesiges Experimentierfeld, oder liegt dort das Business der Zukunft? Was können Unternehmen dort eigentlich machen, und welche Chancen und Risiken gibt es? Wenn der weltgrösste Kosmetikhersteller Produkte im Metaverse verkauft und seine Kommunikation darauf einstellt, ist das Anlass genug, über diese Fragen zu reden. So geschehen auf dem Kontx Talk vergangene Woche. Als Kommunikationsagentur aus Zürich und Frankfurt mit Schwerpunkt auf strategischer Beratung hat sich Kontx auf die Fahnen geschrieben, mit diesem Format die vor uns liegenden Herausforderungen aus ungewöhnlichen Perspektiven zu beleuchten. Im Fokus stehen dabei nicht nur Marketing- und PR-Themen, sondern wie wir in Zukunft leben werden.

Versicherungsfiliale eröffnet

Unter reger Beteiligung der Zuschauer entwickelte sich auf dem Podium eine lebhafte Diskussion. Roberto Monosi, Head Customer Care bei Smile Insurances, ist verantwortlich dafür, dass der Direktversicherer bereits eine Filiale im Metaverse auf der Plattform spatial.io. hat. Smile versteht sich als Marke für digitalaffine Menschen, positioniert sich als digitaler Challenger und will daher bei Zukunftsthemen First Mover sein. „Auf den fahrenden Zug aufzuspringen, ist für uns keine Option» sagte Monosi beim Kontx Talk. «Wir wollen mitbestimmen, wo die Reise hingeht.“

Beratung von Avatar zu Avatar

Smile nutzt das Metaverse als zusätzlichen Touchpoint, um die Kunden dort abzuholen, wo sie sich in Zukunft immer häufiger aufhalten werden. Die Nutzer machen über die Website beispielsweise ein virtuelles Treffen für eine Motorfahrzeugversicherung aus, setzen ihre VR-Brille auf und schlüpfen damit in ihr digitales Ich. Im virtuellen 3D-Meetingraum treffen sie auf den Avatar des Customer-Care-Mitarbeiters von Smile, der alle Fragen rund um die Versicherungsoptionen und Leistungen beantwortet. «Wir haben dort die Möglichkeit, mögliche Schadensfälle und unsere Leistungen sehr anschaulich darzustellen», so Monosi weiter. «Mit dem Metaverse nutzen wir eine völlig neue digitale Möglichkeit, unseren Kunden unsere Produkte näherzubringen. Für uns überwiegen die Chancen ganz klar die Risiken.»

Echter Mehrwert für alle?

Pascal Fessler, Geschäftsführer von Longtail Media, bewertet das Metaverse zurückhaltender. Der Experte für Videoproduktionen kennt sich mit Bildwelten aus und informiert sich regelmässig auf Fachmessen in den USA über die neuesten Trends in der visuellen Darstellung. «Es gibt sicher sinnvolle neuartige Anwendungen im Metaverse, die den Nutzern einen echten Mehrwert bringen», sagte Fessler während des Kontx Talks und nannte als konkretes Beispiel die Operations-Simulationen für angehende Chirurgen. «Aber einen flächendeckenden Nutzen für jedermann wie beim Smartphone sehe ich noch nicht.» Der Sinn von Immobilienkäufen im Metaverse beispielsweise sei fraglich. Auch Fessler ist davon überzeugt, dass das Metaverse für unseren Alltag zunehmend bedeutender wird. «Ich glaube aber, dass das nicht so schnell vor sich geht. Unternehmen, die jetzt nicht ins Metaverse gehen, werden auch in zehn Jahren noch am Markt sein.»

«Auch Treuhänder müssen ins Metaverse»

Mit dieser Einschätzung traf Fessler auf lebhaften Widerspruch beim dritten Teilnehmer der Podiumsdiskussion, bei Bora Erbil. Erbil ist Managing Partner beim Treuhänder Numarics AG und vollständig von der schnell steigenden Relevanz des Metaverse überzeugt. «Unternehmen, die sich jetzt nicht mit dem Metaverse beschäftigen, werden es in zehn Jahren schwer haben. Das Metaverse wird das neue Internet.» Erbil zog eine Parallele zur Entwicklung von vor 25 Jahren. «Bis ins neue Jahrtausend glaubten einige Unternehmen, sie könnten auf eine Website verzichten – heute kann sich das niemand mehr erlauben.» Ob das denn auch für Treuhänder gelte, warf Moderatorin und Kontx-Inhaberin Bettina Gebhardt ein. «Eindeutig ja», legte sich Erbil fest. «Künftig setzen wir bei Numarics eine Künstliche Intelligenz (KI) ein, die den Kunden dabei unterstützen wird, vermehrt selbst Buchungen durchzuführen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Effizienz, die unsere Kunden verlangen.» Was genau das Unternehmen im Metaverse tut und plant, erfahren Sie in diesem Interview mit Bora Erbil.

Risikofaktor KI

Beim Thema KI bestand Einigkeit. Den Einsatz künstlicher Intelligenz, über die derzeit so viel gesprochen wird, halten alle Podiumsteilnehmer für einen grossen Risikofaktor. Sobald die User nicht mehr sicher sein können, ob sich hinter dem Avatar im Versicherungsbüro ein echter Mensch verbirgt, geht Vertrauen verloren und das Geschäft leidet. (Darum hat Smile ein sicheres Verifizierungssystem eingeführt.) Ausserdem würden populistische und kriminelle Machenschaften mit künstlicher Intelligenz erleichtert, hier bedürfe es regulierender Massnahmen durch staatliche Institutionen, sind sich alle Speaker einig.

Mehr als ein Hype

Hardware und Infrastruktur sind momentan noch nicht so weit, dass sich das Metaverse flächendeckend durchsetzen kann, so die drei Experten. Dazu müsse sich die Datenübertragungsgeschwindigkeit des Internets erhöhen und die unbequemen VR-Brillen müssen komfortabler werden. Es wird also noch einige Jahre dauern, bis wir uns alle im Metaverse Wimperntusche für unsere Avatare kaufen oder eine Motorradversicherung abschliessen. Wie lange genau und welche Rolle diese Aktivitäten in unserem Alltag tatsächlich einnehmen werden, ist offen. Aber das Podium des Kontx Talks war sich einig: Das Metaverse ist nicht nur ein Hype. Sein Potenzial ist riesig.