Erzählen Sie mehr! Was gutes Storytelling für Unternehmen wert ist

(von Dominik Melzig)

Witzige Geschichte: Die junge Mutter mit dem Baby auf dem Arm fragt den Vater beim Einchecken in ein winterliches Berghotel: «Du hast doch an den Lieblingsschnuller gedacht?» Hat er nicht. Also macht er sich mit dem Auto auf die halsbrecherische Fahrt nach Hause, durch verschneites Gelände, gesperrte Strassen und ausgetrocknete Kanäle. Wie in Actionfilmen eskortieren Polizeihubschrauber den engagierten Vater, der inzwischen zum Social-Media-Star und zur Breaking News im TV geworden ist. Als er nach seiner Rückkehr dem Baby den pastellgrünen Schnuller in den Mund schiebt (Mutter und Kind warten immer noch vor dem Hotelschalter), spuckt das Mädchen ihn wieder aus und Mama klärt auf: «Sie mag nur den blauen!» Papa fackelt nicht lang und fährt nochmal los.

Der Spot «Binky Dad» der Automarke Kia lief am 13. Februar in einer Werbepause des Super-Bowls, dem grössten Einzelsportereignis der Welt – und wie ich finde ist er ein gutes Beispiel für erstklassiges Storytelling. 100 Millionen Amerikaner und 800 Millionen Menschen weltweit haben zugesehen, und allein die Mediakosten für die Ausstrahlung betrugen rund 14 Millionen Dollar. Diese Zuschauer erwarten auch in den Werbepausen beste Unterhaltung, der Autokonzern muss die Erwartungen erfüllen und dabei den grösstmöglichen Nutzen aus den eingesetzten Millionen ziehen. Ich bin überzeugt, dass Kia das mit diesem Clip geschafft hat.

Inszenieren statt informieren

Die Blinky-Dad-Geschichte hat Tempo und reisst den Zuschauer regelrecht mit. Sie ist äusserst unterhaltsam, weil sie mit bekannten Motiven spielt: Themen wie «Alles für das Kind», «Kein Hindernis ist zu gross, wenn man etwas wirklich will», «Ganz Amerika steht hinter dem Helden» habe ich bereits in vielen Variationen gesehen, gehört und gelesen, darum bietet mir dieser Clip zahlreiche «Ach-ja»-Momente. Unter Marketinggesichtspunkten ist dabei entscheidend, dass er eine klare Botschaft verbreitet: Mit einem Kia-Fahrzeug kannst Du Unmögliches möglich machen, hast dabei Spass und geniesst den Beifall der Menschen. Darum ist der Spot so gut.

Klar, Storytelling kann auch daneben gehen. Die Geschichte, die Prinz Harry derzeit der Öffentlichkeit erzählt, fördert nicht gerade seine Beliebtheit. Elon Musk macht es besser: Seine Fehltritte und Absonderlichkeiten sind Teil der Story, in der er sich als exzentrischer Visionär inszeniert und die ihn 2021 als «Person oft the Year» auf den Titel des TIME Magazines verhalf. Aber man muss weder dem Hoch- oder Geldadel angehören noch einem multinationalen Autokonzern, um erfolgreich Geschichten erzählen zu können. Meine Erfahrung zeigt im Gegenteil: Storytelling ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein Erfolgsrezept für die Marketing-Kommunikation.

Was ist Storytelling?

Geschichtenerzählen ist natürlich eine uralte Kulturtechnik, aber im Business-Umfeld gilt die Definition: Storytelling ist eine Methode zur Vermittlung von Informationen oder Botschaften. Sie macht sich die Erkenntnis zunutze, dass Botschaften mehr Aufmerksamkeit erhalten und Informationen besser im Gedächtnis verankert bleiben, wenn sie in Geschichten eingebunden sind. Diese Erkenntnis war nie wertvoller als heute, denn der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen wird immer härter. Experten schätzen, dass jeder von uns heute über 10.000 Werbebotschaften pro Tag ausgesetzt ist. Folglich sinkt das Aufmerksamkeitspotenzial für jede einzelne Botschaft ebenso so rapide wie die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Wirksame Techniken, um mit der eigenen Botschaft in die reizüberfluteten Köpfe zu gelangen, sind also gefragt. Darum liegt Storytelling voll im Trend. Und wie der Erfolg von Netflix, Amazon Prime Video und anderen Streamingdiensten zeigt, sind die Menschen für gute Geschichten immer offen.

«Facts tell, stories sell» – so funktioniert Storytelling

Im Gedächtnis können wir Geschichten besser abspeichern als rein faktische Informationen, weil sie Zusammenhänge aufzeigen, Ursachen und Wirkungen erklären und uns emotional berühren. Dabei entstehen Bilder im Gehirn. Aus diesem Grund arbeiten viele Eselsbrücken und Gedächtnistraining-Methoden auch mit Bildern oder Mini-Geschichten. Menschen können komplexe Sachverhalte leichter aufnehmen und länger abspeichern, wenn das Kopfkino einsetzt. Um den Projektor in Gang zu setzen, bauen gute Geschichten immer auf dem kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft auf, dass sich aus Motiven unzähliger Bücher, Filme, Snaps und viraler Clips speist. Siehe Binky Dad: Actionfilm-Zitate erzeugen bei seiner abenteuerlichen Autofahrt die witzigen «Dejà-vu»-Effekte.

Strategisch für die Marke einsetzen

Aber Storytelling ist mehr als blosse Unterhaltung und das Buhlen um Aufmerksamkeit. Das Erzählen von Geschichten kann dem Publikum einen vertieften Einblick in die Werte eines Unternehmens oder seiner Marken geben. Wenn Sie Geschichten erzählen, statt nur sachliche Statements oder nüchterne Mitteilungen zu veröffentlichen, verstehen wichtige Bezugsgruppen die Beweggründe für Ihr unternehmerisches Handeln besser – und sie speichern emotional statt rational ab, wofür Ihr Unternehmen oder Ihre Marke steht. Dabei ist es unerheblich, ob Sie Müsliriegel oder industrielle Abfüllanlagen produzieren: Wenn Sie Ihre Stakeholder mit Geschichten emotional ansprechen und ihre Botschaften besser in den Köpfen verhaften, vertiefen sie die Bindung zu Ihrem Unternehmen oder Ihrer Marke.

Wie geht gutes Storytelling?

Der Aufbau einer richtig guten Story folgt meist einem klassischen Muster, Vereinfacht gesagt, braucht die Story einen Helden (Herkules, Indiana Jones, Binky Dad), der vor eine Herausforderung gestellt wird (Augiasstall ausmisten, Schatz suchen, Schnuller holen), Widerstände übersteht, wieder heimkehrt und schliesslich die Belohnung erhält (ein Gott werden, Ruhm und Ex-Freundin zurückgewinnen, den Fahrspass noch einmal erleben).

In diese Kategorie gehören zum Beispiel die bekannten Gründergeschichten von IT-Weltkonzernen. Wer wüsste nicht, dass Apple, HP und Google in Garagen entstanden sind? Für Start-ups ist eine gute Gründergeschichte nicht nur ein wichtiges Element der Identität und Unternehmenskultur, sondern auch des Marketings. Die Founder des Müsli-Online-Shops Mymuesli beispielsweise inszenieren ihre «Mymuesli-Story» als archetypische Heldenreise – aber topmodern als Visual Storytelling. Das attraktive 3-Minuten-Video vermittelt alle relevanten Informationen und die Kernbotschaft hochemotional und sehr unterhaltsam. Der Mehrwert für die Marke liegt auf der Hand.

Storytelling digital

Sie werden jetzt vielleicht fragen: Held und Heldenreise, ist das nicht von gestern? Ist es manchmal tatsächlich, wenn es um digitales Storytelling in den Sozialen Medien geht. «Ohne Storytelling wäre Social Media undenkbar», sagt etwa Adil Sbai, Social-Media-Experte und CEO von weCreate. «Denn alle wollen unterhalten werden. Menschen mögen Menschen und ihre Geschichten. Das ist universell und plattform- oder medienunabhängig.» Klar ist aber auch, dass Geschichten je nach Kommunikationskanal unterschiedlich erzählt werden müssen.

In den Sozialen Medien ist jeder User gerne selbst ein Held (wie Binky Dad im TV-Werbespot). Nutzer und Creator im Social Web wollen sich mit Freunden, Followern, Kunden und Klienten vernetzen. Die Geschichten, die hier erzählt werden, sind viel kürzer, und oft setzen sich diese Mikro-Storys über mehrere Kanäle fort. Für Unternehmen kann es hier sinnvoll sein, statt auf einen Helden auf einen Guide zu setzen, der die User – also den Helden selbst – an die Hand nimmt, um das Markenerlebnis in vollem Umfang geniessen zu können. Eine Schlüsselkompetenz fürs Social Storytelling ist, komplexe Inhalte prägnant zu erzählen und die Minigeschichten sinnvoll zu verknüpfen. Für Unternehmen, auch für KMU, eröffnet sich hier ein riesiges Potenzial, das gehoben werden will.

Storytelling für KMU: Tipps in Kürze

  • Trauen Sie sich, nicht nur Neuigkeiten zum Produkt mitzuteilen, sondern erzählen Sie mehr! Ihre Zielgruppen werden es Ihnen danken.
  • Gute Storys finden Sie überall, in jedem Unternehmen und jeder Branche – unabhängig davon, ob Sie Sportschuhe, Industrieroboter oder Wellkarton herstellen.
  • Ein Rat für die Chefs mittelgrosser Unternehmen: Auch wenn Sie eher Macher als Selbstdarsteller sind, können Sie als Held Ihrer Unternehmensgeschichte Ihre Marke oder Ihr Produkt anfassbarer machen. Fast alle Start-ups machen es vor.
  • Erzählen Sie so, dass Sie Ihre Zielgruppe fesseln, unterhalten, amüsieren – seien Sie kreativ und wählen Sie ungewöhnliche Perspektiven. Mut wird belohnt.
  • Sparen Sie nicht mit Konflikten, Widerständen, Problemen. Nur, wenn nicht alles glatt läuft, macht die Geschichte Spass.
  • Denken Sie crossmedial: Ihre Geschichten müssen nicht nur auf der Website funktionieren, sondern auch auf LinkedIn, YouTube und dem Jubiläums-Apéro.
  • Ihre Social-Media-Posts müssen kurz, knackig und visuell anspruchsvoll sein – und so konzipiert, dass User diese Ministories leicht mit bekannten Motiven (z. B. Memes) ergänzen und fortspinnen können.
  • Wenn Sie nicht wissen, was Sie wie erzählen sollen, lassen Sie sich anfangs von den Beratern Ihrer Agentur helfen. Anschliessend erzählen Sie die Geschichten selbst. Und schon haben Sie die erste Marketing-Success-Story.